Ukrainerinnen erzählen von ihrem Leben nach einem Jahr in Groß Gerungs

Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine ziehen sich jetzt bereits über ein Jahr hin. Für die zahlreichen geflüchteten Menschen, die in Groß Gerungs im Gasthof Hirsch Unterkunft gefunden haben, ist die Zukunft nach wie vor ungewiss. Ein Kriegsende ist immer noch nicht in Sicht. Manche arrangieren sich mit der Situation und bauen sich ein neues Leben in Österreich auf. Andere können die Zeit eigentlich nur absitzen, denn auf eine Zukunft hierzulande zu setzen, macht kaum Sinn.
Genauso geht es Natalia Petrova aus Odessa, die vor dem Krieg als Verkaufsmanagerin in einem Unternehmen für Aufzüge gearbeitet hat. Ihre Tochter studiert Medizin per Fernstudium und sitzt die restliche Zeit an der HAK ab, der Sohn an der Mittelschule. Seit einem Jahr befindet sich das Leben der Drei in Schwebe. „Es macht eigentlich keinen Sinn, sich hier etwas aufzubauen. Managerin werde ich in Österreich sicher nicht mehr, und ich habe einen Mann zu Hause in der Ukraine“, sagt die 43-Jährige. Mit ihren Kindern lebt sie deshalb nach wie vor in einem Zimmer im Gasthof Hirsch, auch wenn ihr eine Wohnung deutlich lieber wäre.
Andere Pläne zu verfolgen sei aber unmöglich, denn das Heimweh sei nach einem Jahr in Österreich stärker denn je. Ein zwischenzeitlicher Heimatbesuch war trotz mehrerer Anläufe nicht möglich. „Zugtickets von Wien nach Kiew werden von Schwarzhändlern aufgekauft und teuer weiterverkauft. Ich habe es drei Mal erfolglos versucht“, schildert Natalia Petrova.
Etwas mehr Zukunft in Österreich sieht dagegen Olga Reitsen mit ihrer 13-jährigen Tochter für sich. Die Lehrerin leitete vor dem Krieg die Franchisingabteilung eines Bildungszentrums für Kinder und Erwachsene und wohnte in einem kleinen Ort nahe Kiew. Das Haus steht noch, doch nach den Erderschütterungen durch die Abfangjäger sind alle Fenster kaputt.
Eislaufkarriere bleibt großer Traum
Nach einem Jahr in Groß Gerungs leben die beiden nun in einer Wohnung bei St. Pölten. „Für mich ist es derzeit am wichtigsten, dass meine Tochter weiter trainieren kann. Sie ist Eiskunstläuferin und war in der Ukraine in der Olympiareserve“, erzählt Olga Reitsen. In St. Pölten habe sie nun die Voraussetzungen, um weiter an ihrem Traum festhalten zu können. „Selbst wenn der Krieg plötzlich vorbei wäre, wird die Lage in der Ukraine noch lange schwierig sein. Wenn sie nicht jetzt weitermacht, kann sie die Eislaufkarriere vergessen.“ Wie für Natalia Petrova ist die Arbeit im gelernten Beruf aber aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse wahrscheinlich noch lange nicht möglich. Beide Frauen mussten sich in diesem einen Jahr mit den typischen Problemen als Neuankömmling in einer fremden Welt auseinandersetzen. „Es war so furchtbar, ins Unbekannte fahren zu müssen. Du kennst niemanden und kannst auch die Sprache nicht. Ich habe zu Beginn fast nur geweint“, offenbart Natalia Petrova.
Mit der Zeit habe sie sich aber damit arrangieren können, auch dank der Hilfsbereitschaft der Einheimischen und durch den Verein „Willkommen Mensch“. Schon am zweiten Tag nach der Ankunft fingen die Deutschkurse an, und dank kostenloser öffentlicher Verkehrsmittel konnte das Land erkundet werden. „Wir sind einfach herumgefahren, haben uns viel angesehen und uns in Österreich verliebt“, meint sie.
Mobilität ist für Geflüchtete das größte Problem
Mittlerweile ist jedoch das Thema Mobilität das größte Problem als Geflüchtete in Österreich. Noch bis Ende Oktober war die Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln für alle Ukrainer gratis. Jetzt ist dem nicht mehr so. „Eine Fahrt von Groß Gerungs nach Wien kostet hin und zurück 100 Euro“, sagt Olga Reitsen. Mit sieben Euro „Taschengeld“ am Tag nicht leistbar. „Es bräuchte dringend einen Sozialtarif für die Öffis“, betont Ruth Altenhofer, Obfrau des Vereins „Willkommen Mensch“. Obendrauf kommt die schwache Infrastruktur im Waldviertel.
„Am Wochenende kommt man eigentlich ohne Auto überhaupt nirgends hin“, erklärt sie. Der Verein bemüht sich um die Organisation von Mitfahrgelegenheiten, doch das ist schwierig. „Ich verstehe natürlich auch, dass viele nicht diesen großen Aufwand möchten oder spontan unterwegs sind. Ich glaube aber auch, dass viele Einheimische, die kein Auto oder keinen Führerschein haben, von einem Umdenken in diese Richtung profitieren könnten, ebenso die Umwelt“, sagt Altenhofer.
Aktuell leben rund 70 Ukrainer im Gasthof Hirsch, einige weitere zogen in Wohnungen in Groß Gerungs, Langschlag oder Zwettl. Auch nach einem Jahr ist die Hilfsbereitschaft für sie nicht abgerissen. „Man denkt sich, dass die Menschen irgendwann die Nase voll haben müssen, aber dem ist nicht so“, betont Natalia Petrova.
„Ich habe das Gefühl, dass wir den Menschen nicht egal sind. Ich bin so dankbar für die ganze Hilfsbereitschaft und dem Verein, dass uns geholfen wird, obwohl uns keiner kennt“, sagt sie gerührt. Mit zwei Kindern und dem Notgepäck aus der Heimat flüchten zu müssen, sei ein Gefühl, das hierzulande vermutlich niemand kennt. Das Leben funktioniert für Natalia Petrova gerade so. „Aber jetzt habe ich wirklich genug. Ich will nach Hause.“